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Fragen an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn

Jens Spahn nahm am 24. August 2020 an einem gesundheitspolitischen Dialog in der Villa Friedlinde in Lohmar teil. Auch eine kleine Delegation des Ev. Altenheim Wahlscheid e.V. war vor Ort, beteiligte sich an der Diskussion und überreichte dem Minister einige Fragen, vor allem mit Bezug zur Situation von Pflege und Betreuung und dem Umgang mit dem Coronavirus.

Zunächst ein Dank: Wir erleben die erste große Pandemie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und weltweit und haben- auch durch die effektiven Entscheidungen der Regierung und den Einsatz der Bevölkerung – einen vergleichweise milden Verlauf mit niedrigen Infektionszahlen und wenigen Toten, vor allem im Vergleich zu anderen Ländern. Danke auch ganz persönlich Ihnen, Hr. Bundesminister Spahn, dass er sein Versprechen gehalten hat und die Coronaprämie nach vielen Diskussion tatsächlich gezahlt wurde, und eine herzliche Einladung an Sie, in ruhigeren Zeiten unsere beiden Einrichtungen etwas näher kennen zu lernen. Wir würden Ihnen gerne zeigen, was Pflege und Betreuung uns bedeutet und dass dieser Beruf der schönste ist, den wir uns vorstellen können. Die Dinge, die uns dennoch bei unserer Arbeit beschweren, möchten wir gerne mit Ihnen besprechen und Ihnen auch schriftlich mitgeben, da die Zeit vermutlich nicht reicht, alles zu thematisieren, was unsere Kolleginnen und Kollegen an Fragen aufgeschrieben haben.

Unsere Fragen

  1. Wir leiden vor allem unter dem schlechten Ruf der Altenpflege. Immer steht der Verdacht im Raum, dass in der Altenpflege nur qualitativ hochwertige Arbeit geleistet würde, wenn man sie sehr engmaschig kontrolliere. Es wird von „rechtsfreien Räumen“ gesprochen, in denen Bewohnerinnen und Bewohner wegen fehlender Kontrollen „ungeschützt“ gewesen seien, zuletzt gesendet in „Report Mainz“. Dieser Generalverdacht ist in keinem anderen Gesundheits- oder Sozialbereich zu finden – nicht im Krankenhaus, nicht im Kindergarten, nicht in der Schule, auch nicht in anderen Gemeinschaftsunterkünften wie Reha, Behindertenhilfe oder Flüchtlingsheimen.Wie gedenken Sie, gegen dieses Missverhältnis anzugehen?
  2. Der Applaus darf nicht enden. Gute, kompetente Pflegekräfte suchen nach Auswegen aus dem Schicht- und Wochenendbetrieb und bleiben oft nicht lange an der Basis. Der Beruf ist vor allem finanziell nicht attraktiv genug und die zunehmende Arbeitsverdichtung belastet immens. Es fehlt Zeit für die notwendige Empathie, Motivation und Verständnis für die von uns gepflegten und betreuten Menschen. Zudem fehlt die notwendige Anerkennung in der Gesellschaft für unser Tun. Kurzfristige Lobeshymnen in Zeiten der Pandemie helfen in diesem Fall nicht und sichern auch kein Personal. Wie stehen Sie zu einem bundesweiten Tarifvertrag? Wie stehen Sie insb. zu einem Einstiegsgehalt von 4.000€ für Fachkräfte, alternativ 3.000€ Grundgehalt plus deutliche Aufwertung der Zuschläge für Wochenende und Feiertage, was eine deutliche Aufwertung der Pflege bedeuten würde?
  3. Die 20.000 zusätzlichen neuen Stellen im Pflegehelferbereich, finanziert über die Pflegekassen, aus einem aktuellen Referentenentwurf, bedeuten für Einrichtungen durchschnittlich ca. 1 zusätzliche Vollzeitkraft. Für Wahlscheid bedeutete dies eine 2%-ige, in Lohmar eine 3%-prozentige Steigerung. Dies kann nur ein Anfang sein. Auch in der Betreuungsassistenz besteht noch ein Mangel. Die durch die Rothgang-Studie ermittelte Personalbesetzung würde dabei helfen, die durch Corona gestiegenen Anforderungen an Hygiene, Pflege und Betreuung besser bewältigen zu können. Für wie realistisch halten Sie eine Einführung bis Ende 2021?
  4. Werden Sie unterstützen, dass die in Bildung begriffene Bundespflegekammer analog zu den anderen Heilberufekammern im Gemeinsamen Bundesausschuss einbezogen wird, damit Pflege endlich über sie betreffende Gesetze mitberaten kann?
  5. Gemäß §64 S. 2 PflBG haben Personen, deren pflegefachliche Ausbildung länger zurückliegt, die Erlaubnis, die neue Berufsbezeichnung zu führen. Durch den Wegfall eines Absatzes fehlt jedoch das Recht, die Berufsurkunde entsprechend zu erneuern. Was raten Sie Pflegekräften, denen von der zuständigen Behörde kein neues Dokument ausgestellt wird?
  6. Sehen Sie angesichts steigender Fallzahlen und dem dadurch zurückgehenden Risiko einer Verzerrung der Fallzahlen durch falsch positive Ergebnisse die Möglichkeit, regelmäßige verdachtsunabhängige Tests für Pflegepersonal kostenfrei anzubieten? Was für Reiserückkehrer sowie für Lehrer und Erzieher möglich gemacht wird, sollte erst Recht für systemrelevante Personen aus Pflege und Medizin gelten. Corona-Testungen für Pflegepersonal ohne Symptome werden vom Gesundheitsamt nicht gestattet, auch nicht bei Reiserückkehrern und bei Entlassung aus dem Krankenhaus oder bei Pflegeauszubildenden, die aus einem Fremdpraktikum bzw. aus dem Schulblock zurückkehren. Warum?
  7. Warum wurden nicht mit Beginn der Sommerferien des ersten Bundeslandes Reisewarnungen für das gesamte Ausland rausgegeben, wo doch abzusehen war, dass die Menschen so tun, als gäbe es kein Corona mehr?
  8. Ist die Festlegung des Ende-Datums der Corona-Schutzmaßnahmen der Länder auf ein erkennbar weit entfernt liegendes Datum bei der Diskussion mit den Länder-Kollegen eine Option? Wenn klar ist, dass die Maßnahmen eher bis Dezember 2020 oder Mai 2021 laufen als gerade einmal bis zum Ende des aktuellen Monats, hätte das Signalwirkung.
  9. Wie werden die Schüler gefördert, damit sie chancengleich am Unterricht teilnehmen können, z.B. über zur Verfügung gestellte Laptops/Tablets für den hoffentlich funktionierenden Fernunterricht, wenn ihre Schule von einer Quarantäne betroffen ist? Diese ließen sich z.B. über den Hartz-IV-Regelsatz nicht finanzieren und auch der Elternbonus wird de facto dafür nicht ausreichen.
  10. Gedenkt das Bundesgesundheitsamt, Mittel für die in Schulen und Kitas den Infektionsschutz vor Ort verbessernde Maßnahmen wie Lüftungsgeräte, Plexiglastrennwände, CO2-Ampeln oder Förderung der digitalen Beschulung bereitzustellen?
  11. Professor Drosten schlägt einen anderen Umgang mit Clustern vor. Personen, die enge Sozialkontakte zu einer Kontaktperson 1 haben, werden aktuell i.d.R. nicht getestet oder vorsorglich unter Quarantäne gestellt. In einem Berufskolleg in der Nähe wurden hingegen alle Personen, die einen Klassenraum betreten haben, in dem ein erkrankter Schüler war, unter Quarantäne gestellt. Dies betraf ca. 400 Personen. Bei kleinen Kindern, die wegen eines Corona-Falls in der Schule oder Kita unter Quarantäne stehen, führt die vorgesehene Trennung von den Eltern mit z.T. angedrohter Herausnahme des Kindes aus der Familie zu besonderen Härten.
  12. Wie gedenken Sie, die durch Auswirkungen des Terminservice- und Versorgungsgesetz entstehenden Probleme kurzfristig zu beheben, über die kürzlich die ARD-Sendung plusminus berichtete: Kunden erhalten teilweise nur noch begrenzte Stückzahlen von zum Verbrauch bestimmten Hilfsmittel, weil Kassen die Rechtslage zu ihrem Vorteil ausnutzen?
  13. Welche Möglichkeiten sehen Sie, um die Hausärzte durch mehr verantwortliche Delegation an die Pflege, z.B. bei der Verordnung von Inkontinenzmaterial oder Wundauflagen, zu entlasten?
  14. Wie wollen Sie die Diskrepanz zwischen den Anforderungen aus pflegerischen Expertenstandards umgehen, die z.B. den Einsatz von Pain Nurses oder Wundmanagern im Pflegeheim und ambulanten Pflegediensten vorsehen, um mit Beratung und Schulung interdisziplinär aktiv und kommunikativ gegen chronische und akute Schmerzen bzw. chronische Wunden vorgehen zu können, aber keinerlei Vergütungen durch SGB V bzw. XI dafür bereitgestellt werden?
  15. Ähnlich verhält es sich mit den Leistungen der Palliativpflege, die in Pflegeheimen erbracht wird. Hilfe durch Palliativärzte oder SAPV können nach SGB V abgerechnet werden. Für die Pflege in der Pflegeeinrichtung durch Palliative-Care-Fachkräfte erfolgt keine Honorierung, es wird scheinbar erwartet, dass dies in Pflegeeinrichtungen „einfach so“ passiert. Durch die immenseArbeitsverdichtung gibt es aber kein „einfach so“, es steckt immenses ehrenamtliches Engagement darin, wenn eine Einrichtung eine menschenwürdige Sterbebegleitung leistet. Gedenken Sie, die gegenüber den Kranken- oder Pflegekassen abrechnungsfähig zu machen?
  16. Zur Entlastung der Ärzte könnten Pain Nurses die pflegerische Übernahme der Schmerzmedikation komplett übernehmen. Pflegekräfte kennen die bio-sozialen Verhältnisse am besten und sind dichter bei den Nebenwirkungen dran. Die Kommunikation zwischen Arztpraxis und Pflege ist oft zu langsam, wodurch ein großer Teil der Chronifizierung hausgemacht ist und in Summe immense Kosten für die Kassen resultiert. Muss das sein?
  17. Bei Markus Lanz sagten Sie am Donnerstag, dass während der ersten Welle FFP2-Masken Standard in Krankenhäusern und Pflegeheimen waren. Das war bei uns tatsächlich so, erstattet wurden die FFP2-Masken aber nur für die Verwendung bei tatsächlich Erkrankten, obwohl in der Quarantäne ja von einer Infektion ausgegangen werden sollte. Ist Ihnen bewusst, dass hier die von Ihnen angenommene PSA zu Mehrkosten führt? Es gibt weiterhin knappheitsbedingte hohe Preise und reduzierte Liefermengen. Flächendeckend werden in den Einrichtungen pro Schicht nur eine Maske zur Verfügung gestellt, was je nach Arbeitsbelastung dazu führt, dass die Masken schnell durchfeuchtet sind und eigentlich verworfen werden müssten.
  18. Starre Richtlinien und Sektorengrenzen, sowohl zwischen Kranken- und Pflegeversicherung als auch zwischen ambulant und stationär behindern übergreifende und bedarfsgerechte Pflegekonzepte (z.B. Gesamtversorgungsverträge, integrierte Tagespflege). Wie gedenken Sie dies zu ändern?
  19. Wir sind ein Non-Profit-Unternehmen und favorisieren diese Form. Warum braucht es Krankenhäuser, Altenheime und Pflegedienste als renditeorientierte Unternehmen?
  20. Ausländische Pflegekräfte sollten trotz Pandemie einreisen können (z.B. in separaten Flugzeugen), mit Testungen und zusätzlicher Quarantäne. Schnelle Anerkennung der Ausbildung im Ausland ist wünschenswert, um dem Fachkräftemangel entgegen zu wirken
  21. Obwohl die Entbürokratisierung in der Pflege seit Jahren thematisiert und angesprochen wird, wird der Arbeitsaufwand, was die Dokumentation betrifft, immer höher. Gerade in der jetzigen Pandemiezeit fiel dies besonders auf, wo tagtäglich in unseren Augen durch die sich ständigen Gesetze, Rechtsverordnungen, Erlasse und Empfehlungen unnötige Dokumentation geleistet werden musste.
  22. Die kürzlich eingeführte generalisierte Ausbildung sollte zukünftig qualitativ besser sein als die bisherige Altenpflegeausbildung an vielen Fachseminaren. Diese Berufsschulen sind zum Teil schlecht ausgestattet und die Qualität der Ausbildung ist sehr von Personen abhängig. Eine Qualitätsentwicklung dort ist dringend notwendig. Wie würden Sie diese anstoßen?
  23. Sollten Altenpflegeeinrichtungen wegen eines Covid-19-Ausbruchs für Angehörige der Bewohner wieder geschlossen werden, ist der Druck und die Belastung für Personal und besonders auch die Bewohner stark erhöht. Bewohner werden von diesen Einschränkungen zunehmend krank, vor allem psychisch. Wie geht man mit diesen Kollateralschäden um, wenn die erste Maßnahme gleich die Schließung der Einrichtung ist?
  24. Das Personal kommt in der Pandemiezeit mit dem ursprünglichen Arbeitssoll nicht mehr aus. Durch Schließungen und Wegfall der Ehrenamtler, Angehörigen etc. musste zusätzlich zu der täglichen Arbeit vor allem sehr viel psychosoziale Arbeit (begleitete Spaziergänge, tröstende Gespräche, Herstellen distanzwahrender Kontakte, ständige Telefonate) geleistet werden. Diese Arbeit wurde nicht vergütet und musste ehrenamtlich durch viele Mitarbeiter aufgefangen werden. Ohnehin sind die Vergütungen für soziale Tätigkeiten in Pflegeeinrichtungen ausbaufähig und trotz des Einsatzes von Betreuungsassistenten bestand Bedarf an mehr sozialer Nähe schon vor Corona. Sind hier Änderungen geplant?
  25. Hilfsmittel, die von den Einrichtungen beschafft werden, sind sehr teuer. Unabhängig vom Zustand dieser Hilfsmittel müssen diese z.T. nach zwei Jahren aus dem Verkehr gezogen und neu angeschafft werden, selbst wenn diese nur auf Vorrat lagern und nicht genutzt wurden.
  26. Der Pflegeschwarzmarkt zum Dumping-Preis durch osteuropäische 24h-Kräfte ist ein Problem. Es gibt dort kein Einhalten der Arbeitsschutzgesetze, wenig Kontrolle und die Grenze zur Illegalität ist fließend. Ein aktuelles Urteil spricht einer bulgarischen Pflegehelferin eine Nachzahlung von 40.000€ zu, was einer 21-stündigen Rufbereitschaft zum Mindestlohn entspricht. Was ist Ihr Standpunkt dazu?
  27. Medikamente verstorbener Bewohner dürfen nach dem Tod nicht an andere Bewohner, die die gleichen Medikamente verordnet haben, weitergegeben werden, sondern müssen entsorgt werden. Dies ist teuer und belastend für die Umwelt. Sehen Sie hier Möglichkeiten einer Flexibilisierung?
  28. Der Krankheitsstand in der Pflege liegt weit über dem Durchschnitt aller Berufe. Dadurch steigt die Belastung für die gesunden Kollegen noch mehr. Personen, die z.B. aufgrund eines Bandscheibenvorfalls keine direkte Pflege leisten können, könnten z.B. wertvolle Aufgaben in der Betreuung oder beim Richten von Medikamenten übernehmen. Sehen Sie die Möglichkeit einer tätigkeitsbezogenen Krankschreibung?